Latein heute – wichtiger denn je

Gewiss sind dem Lateinischen die Native Speakers ausgegangen, und deshalb entwickelt es sich im Unterschied zu den lebenden Sprachen nicht weiter. Wer das mit Nutzlosigkeit gleichsetzt, verrät sein einseitiges Sprachverständnis. Für ihn zählt Sprache nur als unmittelbares, mündliches Kommunikationsmedium.

Die Funktion einer Sprache beschränkt sich aber bekanntlich nicht nur auf ihre aktive Realisierung, und ihr Nutzen definiert sich über den Gebrauch. Die Tatsache, dass es sich beim Lateinischen um ein abgeschlossenes sprachliches System handelt, wird traditionell als Vorteil angesehen.

Die Sprache wird als zu analysierendes Objekt in den Mittelpunkt genommen, nichtbenötigte Lernenergien werden in die Analyse der grammatischen Strukturen investiert.

Grammatik lernt man erst richtig im Lateinunterricht hört man immer wieder. Die Unterrichtssprache Deutsch erlaubt, sich darüber zu unterhalten, was sich hinter den Kulissen des sprachlichen Systems abspielt, einen Einblick zu gewinnen, wie Sprache funktioniert. Die dazu notwendigen Begriffe werden im Lateinunterricht viel intensiver eingeübt als in anderen modernen Fremdsprachen. Dieses Instrumentarium ist hilfreich für das Erlernen jeder Sprache.

Die Basissprache Latein erbringt einen Service für jeden späteren Spracherwerb. Könnte das nicht auch das Fach Deutsch leisten?

Die Erfahrung zeigt jedoch, dass der Deutschunterricht diese grammatische Schulung vielerorts nicht leisten kann oder will. Daher bietet der Lateinunterricht hier seine guten und bewährten Dienste an. Als Reflexionssprache will Latein nicht mit den Modernen Fremdsprachen in Konkurrenz treten. Es geht hier um ein Mit- und Füreinander.

Wer Latein als Hindernis auf dem Weg zu größerer Fremdsprachenkompetenz deutscher Gymnasiasten beargwöhnt, der übersieht seine auf Kooperation angelegte Dienstleistung bei der Schaffung sprachlicher Fundamente. Dass die romanischen Töchter den größten Teil ihres  Vokabulars von der Mutter übernommen haben, braucht man ebenso wenig nachweisen wie die Tatsache, dass die Kenntnis des lateinischen Basiswortschatzes ein Lern-Reservoir darstellt.

Welcher ehemalige Latein-Schüler hat beim Urlaub in Spanien oder Italien noch nicht die Erfahrung gemacht, dass er manches versteht, ohne dass er jemals diese Sprachen erlernt hat. Praktizierte Europa-Kompetenz.

Das gleiche gilt für das Englische: Mehr als die Hälfte des in der Alltagssprache gebräuchlichen englischen Vokabulars geht auf das Lateinische zurück. Nimmt man sämtliche Wissenschaftssprachen hinzu, kommt man auf rund 80 %.

Die deutsche Sprache schließlich: Auch sie weist einen beträchtlichen Anteil an lateinstämmigen Wörtern auf. Utilitarismus, Validität, Karenztage – das sind Begriffe, die sich einem über das Lateinische viel leichter erschließen.

Das Lateinische erweist sich als wertvolles Sprachtraining für unsere deutsche Muttersprache. Nirgendwo außer in den alten Sprachen wird die Übersetzung ins Deutsche geübt. Im Lateinunterricht aber steht sie im Zentrum. Übersetzen heißt: einen in einer fremden Sprache verfassten Text sinngemäß richtig und sprachlich richtig wiedergeben.  Dabei kommt es auch auf die begriffliche Nuancierung an. Das Deutsche weist gegenüber der „Bauernsprache“ Latein eine stärkere lexikalische Differenzierung auf, und deswegen ist Übersetzen alles andere als eine plumpe, schematische Aneinanderreihung von Vokabelgleichungen.

Angesichts der Verlotterung und der Verarmung, der die deutsche Sprache bei Jugendlichen besonders unterworfen ist, und dem gleichzeitigen Rückgang des Lese-Interesses werden Lateinstunden zu einem Training für Sprachkultur.

Weil es dabei auf korrektes und nuancenreiches Deutsch ankommt, kann man wegen der Bindung an die Vorlage nicht „ausbüchsen“, wenn es schwierig wird, denn „gallus cantans“ ist natürlich nicht der singende Hahn, sondern der krähende Hahn.

Ist es nicht erstaunlich, wie viel aktuelles, lebendiges Bildungspotential das Lateinische bereit hält, wie viel konkretes, auf alltägliche Nutzung bezogenes Wissen?

11.08.2016